Rede in der aktuellen Stunde der Hamburgischen Bürgerschaft am 9. November 2016 zum Thema: Erdo?an beseitigt die Demokratie – Solidarität mit verfolgten Abgeordneten und Demokrat_innen auch in Hamburg!
Frau Präsidentin – Meine Damen und Herren.
Seit dem 21. Juli gilt der von Staatspräsident Erdogan verhängte Ausnahmezustand in der Türkei. Erdogan regiert mit Dekreten, die sofort Gesetzeskraft haben und unanfechtbar sind. Die Verfassung erlaubt keine Klagen gegen die Erlasse.
Erdogan liebäugelt darüber hinaus mit der Wiedereinführung der Todesstrafe – wohlwissend, dass der EU-Beitrittsprozess damit beendet wäre oder zumindest ausgesetzt werden würde.
Seit dem gescheiterten Putsch wurden 100.000 Beamte, Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Vertreter anderer Berufsgruppen suspendiert oder entlassen.
Diese sogenannte „massive Säuberung“ ist allem Anschein nach auf politische und nicht etwa sicherheitsrelevante Motive zurückzuführen.
Die Razzien gegen Mitarbeiter und die Festnahme des Chefredakteurs und weiterer Journalisten der regierungskritischen Zeitung ‚Cumhuriyet‘ sind in höchsten Maße alarmierend.
Gleiches gilt für die Festnahme führender Oppositionspolitiker der pro-kurdischen Partei HDP, der zweitgrößten Oppositionspartei im türkischen Parlament, die von mehr als fünf Millionen Menschen gewählt wurde.
Die SPD-Bürgerschaftsfrakion steht an der Seite der Demokratinnen und Demokraten in der Türkei; an der Seite der Journalistinnen und Journalisten, denen die Ausübung ihrer für die Demokratie unerlässlichen Arbeit durch die Einschränkungen der Pressefreiheit verunmöglicht wird und an der Seite unserer türkischen Kolleginnen und Kollegen – der demokratisch gewählten Abgeordneten im türkischen Parlament.
Es kann leider keinen Zweifel geben: Mit den Angriffen auf Pressefreiheit, Demokratie und Rechtsstaat entfernt sich die Türkei immer weiter von Europa weg.
Das ist darüber hinaus eine hochgefährliche Entwicklung in einem wichtigen NATO-Mitgliedsland.
In der Analyse gibt es hierzulande wohl kaum wesentliche Unterschiede.
Die Frage ist: Wie sollen wir damit umgehen?
Ich denke, Frank-Walter Steinmeier hat recht, wenn er sagt:
„Es ist jetzt an den Verantwortlichen in der Türkei, sich darüber klar zu werden, welchen Weg ihr Land gehen will und was das bedeutet für die Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union.“
Oder, um es deutlicher auszudrücken als der Außenminister es tun kann:
Erdogans Politik hat die EU-Mitgliedschaft in weite Ferne gerückt. Sollte es keinen Kurswechsel in der Türkei geben oder die politische Entwicklung gar noch weiter in die von Erdogan eingeschlagene Richtung zu einem autoritären Staat gehen, ist der EU-Beitrittsprozess langfristig gefährdet.
Allerdings bin ich überzeugt, dass es auch richtig ist, die Tür nicht gänzlich zuzuschlagen, den Gesprächsfaden also nicht abreißen zu lassen.
Wenn Ankara sich Europa wieder zuwenden sollte, müssen unsere Türen offen bleiben. Andernfalls würden wir die westlich orientierten, Erdogan-kritischen Menschen in der Türkei allein lassen. Das werden wir nicht tun.
Zum Schluss noch ein innenpolitischer Hinweis:
Die zunehmende politische Polarisierung in der Türkei ist ein Spiel mit dem Feuer.
Wir hier in Deutschland – dieser Appell geht vornehmlich an die Menschen türkischstämmiger Abstammung in unserer Mitte – dürfen auf keinen Fall zulassen, dass die innertürkischen Konflikte hierher getragen oder gar hier mit nicht demokratischen Mitteln ausgetragen werden.